Friday, December 29, 2017

Cassandras haben es schwer - besonders in heutigen vernetzten Zeiten

Final Curtain
Vor einigen Wochen hatten "Les Troyens / Die Trojaner" von des französischen Komponisten Hector Berlioz ihre in der aktuellen Spielzeit 2017/2018 letzte Aufführung an der Semperoper Dresden. Auf den Tag genau einen Monat zuvor feierte diese Oper mit wagnerianischer Länge (ca. 5 Stunden inklusive zwei Pausen) ihre Premiere mit sehr unterschiedlichen Kritiken (in der Regel ein Zeichen, dass es sich lohnt, sich persönlich ein Bild von der Inszenierung zu machen und die Deutungshoheit nicht den Premierenkrititern zu überlassen, siehe Links zu weiteren Rezensionen am Ende des Beitrags).

So stand zur letzten Vorstellung in dieser Spielzeit ein Besuch dieses musikalischen und visuellen Marathons auf dem Programm und er belohnte über alle Maßen (auch wenn das Parkett noch wesentlich mehr Besucher vertragen hätte, die Ränge hingegen waren gut besucht).

Was macht die Oper, neben den kontroversen Kritiken, so außergewöhnlich? Hector Berlioz hatte "Les Troyens" als "Grand Opera" inszeniert und vor allem der Chor sollte auf der Bühne eine entscheidende Rolle spielen. Was konnte also Besseres passieren als das 200. Gründungsjubiläum des Sächsischen Staatsopernchores im Jahr 2017 zu nutzen. Wie in kleiner Runde mit Intendanz, Dramaturgie und Technischer Direktion am Tag der Offenen Tür gut eine Woche vor der Premiere zu erfahren war, sollten sich 120 Sängerinnen und Sänger bei diesem opulenten Werk auf der Bühne tummeln. Eine Herausforderung der besonderen Art, denn diese Masse an Protagonisten muss erst einmal auf der Bühne untergebracht werden.

Die Geschichte in aller Kürze, wenn auch die emotionalen und komplexen Verbindungen der Protagonisten auf der Bühne wesentlich darüberhinaus gehen. Die wenigen Zeilen aus dem Text auf der Webseite der Semperoper bringen es auf den Punkt:
"Troja und Karthago - in beiden Städten herrscht ein trügerischer Friede. Zwei Völker befinden sich nach Belagerung, Krieg und stürmischer Zeit in Erwartung friedlicher Prosperität. Helden werden betrauert, Helden werden besungen, tote Helden mahnen die Überlebenden. In Zerstörung und Niedergang werden beide Völker enden, die deutlichen Vorzeichen ignorierend."
Die Handlung selbst ist bereits von Berlioz in das Europa der zweiten Hälfte des 19. Jahrhundert gelegt worden als die enorme Technikentwicklung, die in der ersten Pariser Weltausstellung 1855 einem breiten Publikum vermittelt wurden, in vollem Gang war. Es war schon nicht mehr das Troja und Karthago, das wir aus Sagen kennen.

Was die Oper so interessant macht, sind nicht nur die dynamische Komplexität auf der Bühne und die Bezüge zu heutigen Umständen, deren Auswirkungen über die Zeit oft nur von Wenigen erkannt und artikuliert werden, sondern vor allem, bedingt durch die Länge der Inszenierung, die Notwendigkeit des Publikums, sich auf das Ganze einzulassen und förmlich bis zum Schlussaccord, gesungen von Christa Mayer, die in ihrer Rolle brillierte (schauspielerisch wie sängerisch), einzulassen.

Zugegebenermaßen bis zur 1. Pause war auch mir ein Einlassen auf die Musik und das "bunte Treiben" auf der Bühne schwierig. Nach der Pause und einem "Sacken" des Gesehenen und Gehörten kamen nach und nach vor dem geistigen Auge die Bilder anderer "Rufer in der Wüste" oder Cassandras in den Sinn.

Mit der zeitgleich in Bonn stattfindenden Klimakonferenz #COP23, die just in der Woche nach der letzten Aufführung von "Les Troyens / Die Trojaner" stattfand, ist es wert, an Jay W. Forrester und sein Team von DoktorandInnen zu erinnern. 1972 verfassten sie den Bericht "Limits to Growth" (damals initiiert vom Club of Rome und kofinanziert von der Volkswagen Stiftung) zum zukünftigen Zustand der Welt. Über 40 Jahre ist dies nun her. Wurden die Rufe (bislang) erhört? Teilweise ja, doch gesamtgesellschaftlich, so wie das Volk der Trojaner den düsteren Weisagungen der Cassandra Glauben schenkte?

Mitnichten.

Kurzkritik in Form des bewährten #PresencingStatus:

  • Good - stimmgewaltiger und diferrenzierter Chor, der in dieser Oper seine wahren Fähigkeiten zum Ausdruck bringen kann; eine schauspielerisch und sängerisch hervorragende Christa Mayer (festes Mitglied im Ensemble); eine faszinierende Koproduktion sämtlicher Abteilungen des Hauses (vor allem Techniker, Werkstatt und Kostümmacher)
  • Tricky - (anfangs) die Länge der Aufführung; ohne vorheriges Konsultieren des Programmhefts sind Opern dieses Umfangs und Neuigkeit schwerlich in ihrer Gänze zu erfassen; anfängliche Rezensionen von Premierenkritikern hätten auch "abschreckend" wirken können (glücklicheweise gab es zwischenzeitlich weitere Rezensionen, die die Sicht auf die Inszenierung relativierten); "Eiseskälte" im Zuschauerraum (glücklicherweis wurde nach Hinweis an der Garderobe die Temperatur ein wenig erhöht; möglicherweise hängt das Phänomen mit der Überholung der kompletten Klimaanlage vor einigen Jahren zusammen; seitdem sind die Wintermonate anders als früher nicht mehr so intensiv von uns zu Besuchen genutzt)
  • Learned - je "unbekannter" (nicht einmal der Reclam-Opernführer von 1956 führt Hector Berlioz auf) die Oper, desto länger die "Lernkurve" und Verknüpfung mit der Gegenwart und eigenem Erleben (man muss sich Zeit nehmen und den Impuls der "vorschnellen Kritik" aktiv zurücknehmen)
  • Action - Reinhören in die 5-teilige Podcast-Serie "Die John Fiore Show", in der der Dirigent der Inszinierung, zur Musik der unterschiedlichen Akte Detailausführungen gibt, die einem ansonsten verschlossen bleiben und auch helfen, die Oper in ihrer Komplexität einzuordnen (in die damalige Realität und auch aktuelle Bezüge)


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Weitere Rezensionen zu "Les Troyens/ Die Trojaner" an der Semperoper Dresden: 

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Französisch
El cronista errant

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