Wednesday, August 17, 2016

Mindestlohn - überflüssig oder notwendig?

Am 28. Juli 2016 stellten Staatssekretär Stefan Brangs, Sächsisches Staatsministerium für Wirtschaft, Arbeit und Verkehrs (SMWA) und Prof. Dr. Lutz Bellmann, Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) ca. zwei Dutzend Fachpressevertretern den "Forschungsbericht - Mindestlohn: Längsschnittstudie für sächsische Betriebe" vor. Hintergrund waren die Auswirkungen, die die generelle Mindestlohneinführung zum 1.1.2015 auf die sächsische Wirtschaft seit dem hatte. Grundlage der Datenbasis ist das IAB-Betriebspanel,  das seit 1996 auch für die ostdeutschen Bundesländer erstellt wird und für den speziellen Forschungsbericht entsprechend erweitert worden war.
Prof. Dr. Lutz Bellmann (2.v.l.), Stefan Brangs (2.v.r.)
Das Kurzfazit von Prof. Dr. Lutz Bellmann lautete "Keine anderen Bundesländer sind so stark (vom Mindestlohn) betroffen (wie Sachsen)".

Bereits 2014 (vor der Einführung des generellen Mindestlohns von 8,50 €) wären bei einer Einführung des Mindestlohns zu diesem Zeit ca. 31% der sächsischen Betriebe davon betroffen gewesen, da sie mindestens einen Arbeiternehmer mit einem Stundenlohn unter dem geplanten Mindestlohn beschäftigten. Mit Einführung des Mindestlohns gaben 44% der Betriebe an, dass dies Auswirkungen auf ihr Lohngefüge (nicht nur die Arbeitsverhältnisse mit Stundenlöhnen mit weniger als 8,50 €, sondern auch entsprechende Höherstufungen anderer Stellen (Stichwort: Lohnspreizung), um das Lohngefüge innerhalb der Unterhmung ausgeglichen zu halten).

Wesentlich geringer fiel die Auswirkung auf die Anzahl der Beschäftigten aus, die mit 13% (2014) bzw. 16% (2015) angegeben wurde.

"Warum Sachsen so stark?", so Prof. Dr. Lutz Bellmann - eine Frage, die auf den ersten Blick nicht einfach zu beantworten ist. Bei genauerem Betrachten fallen mehrere Aspekte auf, die für Sachsen eine entscheidende Rolle spielen:
  • Trotz des in der volkswirtschaftlichen Theorie gelehrtem "freien Spiel der Marktkräfte" (Tarifvertragsparteien) von dem in Deutschland ausgegangen wird, liegt Sachsen mit einer durchschnittlichen Tarifbindungsquote von ca. 23% eine besondere Situation vor. Dies bedingt, dass Löhne und Gehälter individuell zwischen den Arbeiternehmern und Arbeitgebern ausgehandelt werden oder Haustarifverträge in geringem Maße zur Anwendung kommen.  Die Verhandlungsmacht der Arbeitnehmerseite ist u.a. aufgrund der geringen Tarifbindung schwächer.
  • Sachsen war unmittelbar vor der Wiedervereinigung (und in den Jahrzehnten zuvor) industrielles Kernland mit einem umfassenden Kapitalstock (Unternehmen, Infrastruktur) und einer sehr gut ausgebildeten Arbeitnehmerschaft. Höhere Löhne zogen in den vergangenen Jahrzehnten in hohem Maße Fachkräfte in Richtung Westdeutschland ab. Eindrucksvoll war bei der Ansiedelung von BMW in Leipzig und für die Region vergleichsweise hohen Tariflöhnen (wenn auch auf ostdeutschen und somit niedrigerem Niveau als im Westen) zu erleben, wie ehemals "ausgewanderte" qualifizierte Fachkräfte wieder nach Sachsen zurückkehrten
  • Die "Randlage" Sachsens zu Polen und Tschechien bedingt unmittelbar eine Preiskonkurrenz, die sich für einheimische Unternehmen durch eine Tendenz zu niedrigeren Löhnen ergibt, und durch die geringe Tarifbindung noch verstärkt wird
  • Als weiterer Grund wird eine "geringere" Produktivität von ca. 70% gegenüber den westdeutschen Unternehmen für sächsische Unternehmen (als Grundlage hierfür wird u.a. die Umsatzproduktivität in Form von Umsatz pro Mitarbeiter angegeben (siehe IAB Betriebspanel 2015, S. 93) herangezogen - ob dies der tatsächlichen Produktivität ist bleibt zu hinterfragen
  • Zusätzlich, und das führte Prof. Dr. Lutz Bellmann kurz aus, ist die Exporttätigkeit von Unternehmen in engem Zusammenhang zu gezahlten Löhnen und Gehältern zu sehen. Exportorientierte Unternehmen zahlen in der Regel höhere Löhne als ausschließlich lokal und national tätige Unternehmen.
Trotz aller Negativszenarien vor Einführung des Mindestlohns von 8,50 € wie z.B. in der vom Freistaat Sachsen beauftragten Studie "Auswirkungen des geplanten Mindestlohns auf Beschäftigung und Arbeitslosigkeit in Sachsens Kreisen und kreisfreien Städten" des ifo Institut 2014 (siehe links) ist (zum gegenwärtigen Zeitpunkt) für Sachsen kein signifikanter Mindestlohneffekt auf den Anteil sozialversicherungspflichtig Beschäftigter, geringfügig Beschäftigter und freier Mitarbeiter in Sachsen und Ostdeutschland zu verzeichnen.


Was zum Zeitpunkt der IAB Studie 2016 zu beobachten ist:
  • eine Erhöhung der Stundenlöhne oberhalb von 8,50 €
  • eine geringe Reduktion der Arbeitszeit (nicht signifikant zur Zeit)
  • höhere Absatzpreise
  • kein signifikanter mindestlohnbedingter Effekt auf die Beschäftigung in Sachsen.

Trotz der offensichtlich nicht signifikanten negativen Auswirkungen des Mindestllohns auf den sächsischen Arbeitsmarkt und die Wirtschaft blieben Fragen der Medienvertreter nicht aus, wie z.B. "Ist eine Differenzierung nach Kreisen und kreisfreien Städten bei den Zahlen möglich, um ein differenziertes Bild der Auswirkungen zu erhalten?". "Nach aktueller Datenlage nicht möglich", so Prof. Dr. Lutz Bellmann. Aus welchen Gründen eine (anonymisierte) Datenerfassung in relativer Echtzeit (z.B. monatlich) und differenziert nach Kreisen und kreisfreien Städten bislang nicht möglich ist, um eine höhere Transparenz und somit Durchlässigkeit des Arbeitsmarkt zu ermöglichen, bleibt eine der offenen Fragen, die die Vorstellung der Studie hinterließ. Zugleich machte es Mut, dass Digitalisierung mehr und mehr als Chance für Unternehmer, Unternehmen und Städte und Gemeinden und Bürgerinnen und Bürger erkannt wird.

Auch die Auswirkungen der Digitalisierung für die sächsische Wirtschaft wurden hinterfragt. Neben neuen digital getriebenen Geschäftsmodellen (wobei diese sehr differenziert in den unterschiedlichen Branchen zu sehen ist) werden auch innerbetriebliche Produktions- und vor allem Kommunikationsprozesse durch Digitalisierung nicht nur vereinfacht sondern wertschöpfend erweitert werden können. Um dies zu gewährleisten braucht es engagierte und angemessen bezahlte Arbeitnehmer. Der Mindestlohn kann, auch wenn er vorübergehend die Gesetze des Marktes durchbricht, als untere Ebene verstanden werden, um Arbeit und Beschäftigung in Sachsen zu entwickeln, die ein Leben in allen Regionen des Freistaates auskömmlich machen. 

Der PresencingStatus (Kurzreflexion entstanden aus dem Presencing Institute, das zur Zeit zum wiederholten Male den kostenfreien MOOC U.Lab - Transforming Business, Society and Self anbietet) für das Thema Mindestlohn in Sachsen:
  • GOOD - Mindestlohn (ca. 1.400 € monatlich bei einer Vollzeitstelle) stellt eine "Sittlichkeitsgrenze" (Staatssekretär Stefan Brangs) dar; Ausgangslage, um bei sächsischen Unternehmen "Innovationsdruck", Internationalisierung und Skalierung der Geschäftstätigkeit unter Zuhilfenahme von Digitalisierung zu ermöglichen; Vorbereitung auf den Zeitpunkt 2020 (Auslaufen von Solidarpakt II und Rückgang ESF/EFRE-Förderung durch EU); besonders niedrigqualifierte ArbeitnehmerInnen durch Mindestlohn "verdrängt"
  • TRICKY - Mindestlohn von zahlreichen Akteuren als Eingriff in die Tarifautonomie und unternehmerische Entscheidung gesehen; Ad-Hoc-Reaktionen der Unternehmen (Stundenreduktion, keine Neueinstellung); "Lohnspreizung" kritisch gesehen
  • LEARNED - lediglich 23% der sächsischen Unternehmen unterliegen der Tarifbindung (stark abgenommen seit Mitte der 90er Jahre); Löhne und Gehälter in Deutschland  intransparent (außerhalb von Tarifverträgen)
  •  ACTION - Vermitteln des Nutzens von Digitalisierung (Prozesse innerhalb von Unternehmen, insbesondere zu Kommunikation; Nutzung für Außendarstellung, dass man im Internet gefunden wird); Entwickeln und Umsetzung neuer digitaler Geschäftsmodelle (zusätzlich zu den vorhandenen) für sächsische Unternehmen, die nicht im Technologie- und Hightech-Bereich zu finden sind (z.B. Tourismus, lokale Manufakturen, Spezialgerätehersteller)
Wie lässt sich der Mindestlohn als "Startbahn" für einen zukünftigen ökonomisch und gesellschaftlich prosperierenden Freistaat Sachsen nutzen (insbesondere,da Sachsen mit 2020 aus der bisherigen Förderung durch die EU und Beendigung des Solidarpakt II heruasfällt)? - eine Frage, die alle Akteure im Freistaat in der einen oder anderen Art beschäftigt.

Weiterführende Informationen inklusive der Studie sind der Medieninformation des SMWA hier zu entnehmen (im PDF-Format mit direktem Link auf den Forschungsbericht des IAB).

SMWA auf Twitter von der Fachpressekonferenz "Mindestlohn in Sachsen"